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AutorenbildMichael Baumann

Predigt zum vierten Kapitel des Buches Rut

7. März 2021

Ruth 4:1 Und Boas war zum Tor hinaufgegangen, und dort setzte er sich. Und sieh, der Löser, von dem Boas gesprochen hatte, ging vorüber. Da rief er: Du, komm, setz dich hierher. Und er kam und setzte sich. 2Und er holte zehn Männer von den Ältesten der Stadt und sprach: Setzt euch hierher. Und sie setzten sich. 3Und er sprach zum Löser: Noomi, die aus dem Gebiet Moabs zurückgekommen ist, verkauft den Feldanteil, der unserem Bruder Elimelech gehörte. 4 Und ich habe gesagt, ich will dir die Sache vortragen: Erwirb es in Gegenwart derer, die hier sitzen, und in Gegenwart der Ältesten meines Volks. Wenn du lösen willst, so löse, und wenn du nicht lösen willst, lass es mich wissen, damit ich es weiss, denn ausser dir gibt es niemanden, um zu lösen, ich aber komme nach dir. Und er sagte: Ich werde lösen. 5 Und Boas sprach: An dem Tag, an dem du das Feld von Noomi erwirbst, erwirbst du es auch von Rut, der Moabiterin, der Frau des Verstorbenen, um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbbesitz zu erhalten. 6 Da sprach der Löser: Ich kann nicht für mich lösen, sonst schädige ich meinen eigenen Erbbesitz. Löse du für dich, was ich lösen sollte, denn ich kann nicht lösen. 7 Und dies machte man früher in Israel immer beim Lösen oder beim Tausch, um eine Angelegenheit zu bekräftigen: Der eine zog seine Sandale aus und gab sie dem anderen. Und das war die Bestätigung in Israel. 8 Und der Löser sprach zu Boas: Erwirb du es für dich. Und er zog seine Sandale aus. 9 Und Boas sprach zu den Ältesten und zum ganzen Volk: Ihr seid heute Zeugen, dass ich alles, was Elimelech gehörte, und alles, was Kiljon und Machlon gehörte, von Noomi erworben habe. 10Und ich habe auch Rut, die Moabiterin, die Witwe Machlons, erworben, für mich als Frau, um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbbesitz zu erhalten, damit der Name des Verstorbenen nicht getilgt wird unter seinen Brüdern und aus dem Tor seines Ortes. Heute seid ihr Zeugen. 11 Und das ganze Volk, das im Tor war, und die Ältesten sprachen: Wir sind Zeugen! Der HERR lasse die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rachel und wie Lea werden, die zusammen das Haus Israel gebaut haben. Erwirb dir Reichtum in Efrata, und werde Namensgeber in Betlehem. 12 Und dein Haus werde wie das Haus des Perez, den Tamar dem Juda gebar, durch die Nachkommenschaft, die dir der HERR von dieser jungen Frau geben wird. 13 So heiratete Boas Rut, und sie wurde seine Frau. Und er ging zu ihr, und der HERR liess sie schwanger werden, und sie gebar einen Sohn. 14 Und die Frauen sprachen zu Noomi: Gelobt sei der HERR, der es dir heute an einem Löser nicht hat fehlen lassen; und sein Name soll ausgerufen werden in Israel. 15 Und er wird dir Lebenskraft zurückgeben und im hohen Alter für dich sorgen. Denn deine Schwiegertochter, die dich liebt, hat ihn geboren, sie, die für dich mehr wert ist als sieben Söhne. 16 Und Noomi nahm das Kind und hob es auf ihren Schoss und wurde seine Pflegemutter. 17 Und die Nachbarinnen gaben ihm einen Namen und sagten: Der Noomi wurde ein Sohn geboren. Und sie gaben ihm den Namen Obed. Er ist der Vater von Isai, dem Vater von David. 18 Und dies sind die Nachkommen des Perez: Perez zeugte Chezron, 19 und Chezron zeugte Ram, und Ram zeugte Amminadab, 20 und Amminadab zeugte Nachschon, und Nachschon zeugte Salma, 21 und Salmon zeugte Boas, und Boas zeugte Obed, 22 und Obed zeugte Isai, und Isai zeugte David.




Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gottesdienstgemeinde, liebe Freunde



Das vierte Kapitel Ruth bringt einerseits ein Happy End: Nach einem etwas komplizierten Hin und Her – Rechtsgeschäfte halt – nimmt Boas die Ruth zur Frau und Ruth gebärt ihm einen Sohn, ein Bébé und dieses Bébé wird nicht nur liebevoll vom Schwiegergrosi (wie nennt man das?) Noomi auf den Schoss genommen, sondern zum Ahnvater bis zum König David.

So schnell, so schön, so kurz die Geschichte.

Doch ohalätz, es gibt da einige theologische und gesellschaftliche Stolpersteine. Denen wollen wir ja nicht ausweichen.

Zum einen fällt ja auf, dass Boas seine eigenen Interessen zu Beginn zurück stellt. Gewiss hätte es die eine oder andere Möglichkeit gegeben, die junge Frau zur Frau zu nehmen ohne die überaus mühsame, öffentliche Rechtsvorstellung. Gewiss wären Ruth und ihre Schwiegermutter mehr als glücklich gewesen, hätten sie schlank in das Haus Boas einziehen können, zumal der attraktive Boas ja ein Auge auf Ruth geworfen hatte und er ihr ja auch nicht unattraktiv war.

Warum also diese Theater im Tor der Stadt, mit Zeugen, mit einem namenlosen Verwandten, der dann doch nicht das Zeug zum Ehemann hat?

Die Antwort ist so schlagend wie modern: Es geht um den Wert und die Haltung gegenüber Recht und Gesetz. Und es geht um den kritischen Anspruch an das Recht.

Boas will jeden Eindruck des Gemauschels und seiner Bevorteilung vermeiden. Unabhängig davon, ob man die alte, israelitische Form der Nachkommensicherung und der Familiensicherung noch versteht oder gutheisst, Boas will nicht, dass man ihm Eigennutz vorwerfen kann.

Gewiss, er ist in der besseren Position: Ruth hat ihn sich ausgewählt, offenbar hat sie sich in ihn verliebt. Aber eben: Es gibt da das Problem, dass aufgrund alten Rechts ein anderer Verwandter sie zuerst heiraten könnte. Dann bekäme er den Besitz des verstorbenen Schwiegervater Elimelech. Müsste aber auch Ruth zur Frau nehmen.

Ohalätz, schon wieder, da werden nun gewiss einige einwerfen: Recht und Sozialfürsorge hin oder her, aber es geht nicht an, dass unwidersprochen eine Frau wie Besitz verschachert und vererbt wird.

Man hat ihr im sogenannten Neusprech diesem Geschlechterdiskurs eminent zu widersprechen und möglicherweise Gründe toxischer Männlichkeit, gar cis-hetero-männlicher Gewalt zu identifizieren. Pfui, wie konnte man nur.

Diesem Stolperstein kann man ausweichen. Grammatikalisch wird eine Form verwendet, die in der Hebräischen Bibel nur hier vorkommt.

Boas Angebot an den Verwandten, er müsste – wenn er denn offenbar den begehrten Ackerbesitz kaufen möchte – auch die Frau „mitkaufen“, scheint nur hier vorzukommen. Dahinter steht gewiss auch das alte Gesetz, in so einem Fall für Ruth und Noomi aufzukommen, doch dass der Unbekannte die Frau kaufen müsste – und Boas weist darauf hin: eine Moabiterin, ohne Name, also eine Ausländerin, eine Nichthiesige, nei aberau!, könnte für den „Käufer“ negative soziale Schlagzeilen machen.

Wer heiratet und kauft denn schon eine unbekannte Frau samt Schwiegermutter, nur um an einen Acker zu kommen?

Das Buch Ruth karikiert hier geradezu die männliche Versuchung, eine Frau samt deren Anverwandte ins Haus zu nehmen, nur um an einen Blätz Land zu kommen. Niemand, der bei Trost ist, würde das tun.

Der Unbekannte versteht sofort. Das Zeichen ist klar. Es ist fast wie bei einer Oper: Ich kann nicht lösen, ohne meinen Erbbesitz zu gefährden!

Ja gewiss du Tropf, im letzten Augenblick hat es ihm gedämmert, dass da mehr als ein Hund begraben wäre. Nicht auszudenken, was das in seinem eigenen Haus ausgelöst hätte, wenn der Herr nach einer Gant nach Hause kommt und gleich zwei weitere Frauen mitbringt.

Wir sehen hier nicht nur ein altes, entwickeltes Recht, das dem Rollenverständnis von Frau und Mann schon sehr weit entspricht, sondern auch ein ganz entscheidender Unterschied zu anderen Religionen: Die Bibel kritisiert offenbar in ihrer eigenen Entwicklung die frühe Mehrfrauenehe, indem sie dies einmal am soziale Verpflichtungen und Kriterien knüpft, andererseits dann aber für Heiraten eigene Vokabeln entwirckelt. Eine Frau nehmen, also heiraten, ist auch sprachlich etwas ganz anderes, als eine Frau kaufen. Eine Frau ist nicht Besitz – auch wenn bis in die Neuzeit Eheschliessungen auch bei uns im Westen nicht selten mit dem ökonomischen Hintergrund der Familien gewollt oder ungewollt verbunden wurden.

Voilà. Ruth wird also nicht verkauft, weil Frauen nicht verkauft werden – das die Botschaft des alten Buches Ruth.

Zudem zeigt das umständliche Hin und Her, das in der Chrutschow-mässigen Szene gipfelt, wo der eine dem andern zum Zeichen des Verzichts seine Sandale, seinen Schuh reicht, dass Recht und Gesetz eben dem Leben dienen sollen.

Das ist die zweite Kritik des Buches. Recht und Gesetz werden um der Sozialgesellschaft willen hoch geachtet – doch nur so lange, wie das übergeordnete Ziel das Leben ist.

Recht und Gesetz haben nicht einen Selbstzweck. Sie dienen dem Leben. Und wo das Leben nicht mehr im Zentrum steht, wo das Recht überkompliziert, undurchsichtig und verwirrend wird, muss es geändert und angepasst werden.

Da sind wir nicht weit davon entfernt. Unzählig und unendlich die Dabatten, wie komplex denn eine Steuererklärung sein müsse.

Umgekehrt ebenso unverkennbar, dass immer mehr unsere eigene Gesellschaft mit Rechtsfragen verkompliziert wird und gleichzeitig alle Interessenkreise meinen, mit Juristen ihre Anliegen durchsetzen zu können. Wir leben in einer verrechtlichten Welt – und dem Ausland geht es nicht besser. Sie müssen nur umblicken und neben dem Kirchgemeindehaus das Parkverbot ansehen, das seit einigen Monaten mit Fr. 2‘000.—Busse belegt ist. Braucht es das wirklich? Oder schiesst die Gemeinde nicht mit Kanonen auf Spatzen, verschantzt sich dann aber hinter Recht und Gesetz, wenn es um die Rettung der Post ginge?

Oder ist es wirklich nötig, dass – so unser Kirchenrat – inskünftig alle Freiwilligen in den Kirchgemeinden, die irgendwie mit Kindern zu tun haben, periodisch einen erweiterten Strafregisterauszug abliefern müssen, damit juristisch auch konsequent gegen Grüsel und heikle Figuren vorgegangen werden kann? Und damit die Verantwortlichen in Gemeinden und Kirchenpflegen nicht persönlich belangt werden? Ist das das Ziel, jede Verantwortung, jeden Fehler, jede Möglichkeit des Scheiterns juristisch abzufedern? Ich bin mir da nicht so sicher.

Recht soll dem Leben dienen. Das ist die Botschaft dieser „Verhandlung“ im Tor von Bethlehem, dem damaligen Gerichtssaal.

Nun denn, der Verwandte hat zum Glück genug schnell realisiert, dass er Boas sowohl Acker als auch Frau samt Schwiegerin überlassen soll.

Und wie erwähnt, gebiert Ruth ihrem Mann dann den Sohn, der die Familienlinie bis zum grossen König David weiter zieht, den wir getrost als eine der ersten wirklich historischen Personen betrachten dürfen.

Hier kommt Noomi nochmals zu einem denkwürdigen Auftritt und die Erzählung dreht sich gendermässig weiter.

Denn die Geschichte endet nicht einfach in filmmässigen Happy-End und dem märchenhaften Auszug der Tradition, sondern entgegen anderen Geschlechterverständnissen – über das wir zB auch heute abstimmen – treten Noomi und die Frauen von Bethlehem auf.

Ähnlich wie in der Lukaserzählung vom Besuch des Engels Gabriel bei Maria und ihrem grossen Lob auf Gott, dem Magnifikat, der die Niedrigkeit der Magd angesehen hat, loben am Schluss der Erzählung die Frauen Bethlehems Gott.

Die Frauen Bethlehems – woher kommen sie? Wer hat sie informiert? Was tun sie überhaupt hier?

Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Dieser Vers steht bewusst da. Er ist kein Zufall. Die Frauen Bethlehems stehen für die Offenbarung Gottes. Sie sind die Stimme aus dem Off, die Wahrheit verkündet und die ganze Szene, ja das ganze Buch Ruth einordnet.

Kein Prophet, kein Schreiber, sondern die Frauen treten auf. Und sie ziehen Noomi, die Schwiegermutter mit ein – und nicht Ruth. Sie sprechen nicht zur Braut, denn die hat jetzt anderes zu tun.

Sie reden zu Noomi wie der Engel Gottes zu Maria: An dir und dank dir, Noomi, zeigt Gott wie er nicht nur dem einzeln Sorge trägt und sie durch das Leben geleitet und trägt, sondern zum ganzen Volk.

Noomi wird am Schluss der ganzen Geschichte zur der Person, an der Gott offenbar wird. Ihr Leben ist nicht nur einzelnes Leben, sondern Leben mit Gott und vor Gott.

Und es fällt nicht den Herren im Tor auf, sondern den Frauen von Bethlehem. Und auch wenn im Anschluss dann die Namen der Männer bis auf David folgen, so werden doch Ruth und Noomi in die grosse Linie der Mütter eingereiht, die mit Sarah, Rebekka, Lea und Rahel angefangen hat. Darum ist dieses Buch nicht bloss niedlich, sondern grosse Literatur und theologisch wie gesellschaftlich von hoher Relevanz.

Amen.

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