1. November, Allerheiligen, 2020
26 Darum fürchtet sie nicht! Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt, und nichts geheim, was nicht bekannt werden wird. 27 Was ich euch im Dunkeln sage, das sagt im Licht. Und was ihr ins Ohr geflüstert bekommt, das ruft aus auf den Dächern. 28 Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet euch mehr vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann. 29Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Fünfer? Und nicht einer von ihnen fällt zu Boden, ohne dass euer Vater bei ihm ist. 30 Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. 31 Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. 32 Jeder nun, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich bekennen vor meinem Vater im Himmel. 33 Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater im Himmel.
Matthäus 10,26-33
Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gottesdienstgemeinde, liebe Freunde
Fürchtet sie nicht! Das, liebe Zuhörer ist die Botschaft der Predigt Jesu im Matthäusevangelium. Fürchtet sie nicht!
Was könnte besser passen, als dieser Ausschnitt, der auf zweifache Weise kund tun möchte, dass alles in Gottes Hand liegt.
Zuerst fordert Jesus auf, sich nicht zurück zu halten. Die christliche Wahrheit ist keine Geheimlehre. Es wird nicht geflüstert in der Kirche, sondern laut und deutlich gesprochen.
Das ist eine der Leistungen der Reformation und der Renaissance, dass disputiert und diskutiert wurde, was Kirche und Gesellschaft angeht. Weder Adelstitel noch überkommene Hierarchie dürfen die Wahrheit überschatten, sondern jedermann muss auch in Glaubensdingen sich ein Urteil bilden. Gewiss ist das Befreiung wie neue Last.
Doch sie kam nicht unvorbereitet. Dass wir hier in unserem Kirchenchor an der Decke sowohl das Glaubensbekenntnis wie auch die Schriftzeugnisse aus dem Alten Testament auf Deutsch in der Form des späten 15. Jahrhunderts lesen können, ist Beweis.
Es ist Beweis dafür, dass schon ein knappes halbes Jahrhundert vor der Reformation sogar in Wiesendangen Menschen lesen konnten, gewiss nicht alle gleich gut, doch wusste man schon lange vor Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert um die Wichtigkeit der Bildung und dass nur der mitreden und mitdenken konnte, der über das nötige Allgemeinwissen verfügt. Bildung befreit. Unser Chor ist – obwohl von einer Familie niederen Adels und bischöflicher Hierarchie ausgemalt – Zeichen für einen demokratischen Prozess, der die Kirche nicht unbeeinflusst gelassen hat.
„Was ich euch im Dunkeln sage, das sagt im Licht. Und was ihr ins Ohr geflüstert bekommt, das ruft aus auf den Dächern!“
Die christliche Wahrheit ist eine öffentliche Wahrheit. Es ist die Wahrheit, dass dich Gott erlöst und dein Leben in seinen Händen liegt. Darum: Fürchtet euch nicht!
Gerade darum fordert Christus im zweiten Schritt zum mutigen Bekennen und zur nötigen Gelassenheit auf.
Das mag irritieren, wenn er sagt: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können.“
Gemeint sind hier tatsächlich die Schächer und Handlanger, die Gläubige immer wieder seit Jahrtausenden verfolgt haben. Assyrer und Babylonier, Römer und Perser, deren Vasallenkönige und Emporkömmlinge, Mohammed und seine sich gegenseitig abschlachtenden und selbst ernannten Nachfolger. Sie alle haben Christen und Christengemeinden drangsaliert.
Nicht nur die Christen, auch die Juden wurden schon in der Antike verfolgt. Wer einer Glaubensgemeinschaft angehört, wer Gott sein Herz schenkt, wer auf das Jenseits vertraut und hofft, macht sich in dieser Welt verdächtig.
Verdächtig, weil man nicht den gängigen Clichés entspricht, einer anderen Botschaft vertraut, auf das Leben hofft und nicht dem steten Kampf aller gegen alle, die nur dem Stärksten das Überleben sichert.
Darum warnt Jesus davor, dass die wirkliche Gefahr dort lauert, wo der Mensch sich seine Seele verkauft.
Das ist die Rede von der Hölle. Hölle ist dort, wo der Mensch dem Lebensprinzip zuwider tut und um Ruhm, Geld, Position oder Macht willen die andern verrät. Er mag dabei vielleicht in der Welt gewinnen, doch nimmt seine Seele Schaden.
Niemand ist gefeiht dagegen, an der Seele Schaden zu nehmen, die Hölle zu spüren. Niemand. So hat der bekannte und erfolgreiche Herzchirurg Markus Studer, der Mitte 50 seinen Beruf wechselte und einige Jahre als Transporteur mit dem Lastwagen durch Europa fuhr, in einem Interview gesagt: Zu seinen über 4‘000 erfolgreichen eigenen Operationen am Herz von Patienten kamen die über 70 Menschen, die er während einer Operation verloren habe. Sie begleiten ihn. „Das müsse man auch einmal tragen können.“ – auch wer erfolgreich ist, kann an seiner Seele Schaden nehmen.
Jesus spricht darum nicht von ungefähr im Vergleich von den Spatzen und dem Menschen. Der Spatz ist omnipräsent, mag zeitweise gar lästig und frech sein und wir kennen die Spatzen nicht auseinander. Es ist einer wie der andere – bloss, wenn sie gänzlich fehlen, fällt uns etwas auf.
Spatzen sind austauschbar, sie sind Menge und Masse. Doch redet Jesus davon, dass Gottes alles übersteigendes, mystisches Vorauswissen um jeden von ihnen Bescheid weiss. Gott mag jeden Spatz kennen – wenn wir mit Menschen umgehen, als seien sie Menge und Masse, dann nehmen wir Schaden an unserer Seele.
Umsomehr gilt der Wert des einzelnen, wenn gar jedes Haar auf unserem Kopf in Gott verzeichnet und notiert ist.
Die Vorstellung ist ebenso mystisch, jede Relation und jedes Mass übersteigend, aber bildhaft und klar: Wir sind nicht Menge und Masse, wird sind gezählt.
Gezählt heisst bekannt. Mit Namen versehen und gewollt. Unser Kommen in die Welt ist nicht zufällig – Gott bekennt sich zu uns.
Gott bekennt sich auch zu jedem, wenn er aus dieser Welt tritt und in die Ewigkeit schreitet.
Aus diesem doppelten Bekennen von Gott zu dir folgt der Aufruf, dass wir auch zu unserem Glauben und zu diesem Gott uns bekennen.
Er ist nicht ein theoretisches Gebilde, sondern erfahrbare Wirklichkeit, über die gesprochen und diskutiert werden soll.
Es ist sogar so, dass wenn nicht mehr über Gott gesprochen wird, dann verschwindet er und stirbt. Darum: Wer Gott verleugnet und in dieser Welt für obsolet erklärt, zu dem kann sich dieser Gott nicht mehr bekennen, weil es ihn dann nicht mehr gibt.
Wir müssen von Gott reden, wir müssen Glauben leben, damit wir in dieser und jener Welt leben können und damit es diesen Gott überhaupt gibt! Wer das als zu kompliziert und nicht nötig erachtet, der schafft Gott im Herzen der Menschen ab und damit jedes Heil und jede Hoffnung.
Dann, ja dann regieren die Mächtigen, die Opportunisten, die Menschen, die das Glück im Hier und Jetzt schnell finden mögen und gegebenenfalls den Gegnern lieber den Kopf abschneiden, um Angst und Schrecken zu verbreiten.
Jesus verkündet aber: Gott kennt dich. Gott bekennt sich zu dir. Du bist nicht allein!
Gegen das Allein-Sein wurde auch das Fest Allerheiligen einst gegründet und dass es heuer auf den Reformationssonntag fällt, ist zeichenhaft.
Denn: Es ist das demokratischste Kirchenfest, das es gibt. Das letzte Fest, das Osten und Westen miteinander verbindet und das sich gegen die Kirchenhierarchie und Papst durchsetzte. An Allerheiligen, an dem es eigentlich um die Gläubigen geht, denn sie sind die ersten und richtigen Heiligen, an Allerheiligen wird an die gedacht, die die Sterblichkeit der Welt verlassen und in den Himmel zu Gott aufgefahren sind.
Allerheiligen ist der Geburtstag der Schar der Zeugen. Allerheiligen ist die Kuppel in unserem Chor, es ist das demokratische Fest unserer Vorfahren als Christen und Gläubige. Dass die Welt allerdings immer noch unerlöst ist, zeigt, dass auf Allerheiligen Allerseelen folgt. Es ist das Hoffen der Kirche, dass auch die unerlösten Seelen heim finden – und der Papst musste auch dieses Fest auf Betreiben des Klosters Cluny ab dem Jahr 1000 gut heissen.
Beide Feste – Allerheiligen wie Allerseelen – sind nicht durch die kirchliche Hierarchie, sondern durch Betreiben von Gläubigen, Mönchen und Nonnen, Bewegte und Überzeugte entstanden. Das ist ein Zeichen und es waren Reformen und Revolten wie die Reformation, die sie zustande brachten.
Religion braucht also das demokratische Element, die Revolte und Reform immer wieder. Denn sie sprechen und reden offen über die Welt, die unserer zugesellt ist. Sie verkünden das Heil. Die Rettung. Das Paradies. Sie spricht über die Rettung von Tod und Endlichkeit.
Eine Religion ist aber keine Religion, die diesen Namen verdient, wenn sie den Tod Andersgläubigen verlangt. Sie ist Perversion.
Eine Religion ist aber auch dann keine Religion, wenn sie statt Mut zu machen, aus Angst oder Bequemlichkeit schweigt.
Wir können nicht schweigen zum Tod des Sigristen Vincent in der Kirche Notre-Dame in Nizza. Wir können nicht schweigen zum Tod der schwarzen Mutter von drei Kindern – wo ist hier Black-Lives-Matter Bewegung? Und es ist nicht gleichgültig, dass die 60jährige Nadine enthauptet wurde.
Gerade wer als Protestant weiss, wie leidvoll unsere eigene Geschichte war, wieviele Glaubensgeschwister ihre Überzeugung im 16. und im 17. Jahrhundert mit dem Tod bezahlt haben, der kann nicht schweigen, wenn über dreihundert Jahre später immer noch rund um den Globus christliche Kirchen, aber auch Synagogen, angezündet und zerstört und Gläubige Anschlägen zum Opfer fallen und ermordet werden.
Wenn hier unsere Regierungen schweigen und die Kirchenleitung vornehm Zurückhaltung üben, ist das feige. Und es erweist den christlichen Märtyrern keinen Respekt. Es ist geschichtsvergessen und dumm. Und es wird sich rächen.
Fürchtet sie nicht! So sagt es Jesus zweimal in dieser Stelle im Matthäusevangelium.
Fürchtet sie nicht!
Fürchtet euch nicht vor den Widerwärtigkeiten dieser Welt, vor der Pandemie und vor Krankheit.
Fürchtet euch nicht vor den weltlichen Abstrusitäten und menschlichen Entgleisungen. Denn bei jedem von uns sind die Haare des Hauptes gezählt und der Vater im Himmel wird sich zu uns bekennen.
Amen. Amen.
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