Predigt zum letzten Sonntag nach Epiphanias / sc. Septuagesimae
Ruth 2:1 Und Noomi hatte von der Seite ihres Mannes einen Verwandten, einen tüchtigen Krieger aus der Sippe Elimelechs, und dessen Name war Boas. 2 Und Rut, die Moabiterin, sagte zu Noomi: Ich würde gern aufs Feld gehen und Ähren lesen hinter einem her, in dessen Augen ich Gnade finde. Und sie sagte zu ihr: Geh, meine Tochter. 3 Und sie ging hin und kam und las Ähren auf dem Feld, hinter den Schnittern her. Und es traf sich, dass sie auf dem Teil des Feldes war, der Boas gehörte, einem aus der Sippe Elimelechs. 4 Und sieh, Boas war aus Betlehem gekommen und sagte zu den Schnittern: Der HERR sei mit euch! Und sie sprachen zu ihm: Der HERR segne dich! 5 Und Boas sagte zu seinem jungen Mann, der über die Schnitter gesetzt war: Zu wem gehört diese junge Frau? 6 Und der junge Mann, der über die Schnitter gesetzt war, antwortete und sagte: Sie ist eine junge moabitische Frau, die mit Noomi aus dem Gebiet Moabs zurückgekommen ist, 7 und sie hat gesagt: Ich würde gern Ähren lesen und aufsammeln zwischen den Garben, hinter den Schnittern her. So ist sie gekommen und vom Morgen bis jetzt geblieben. Sie hat sich kaum im Haus aufgehalten. 8 Da sagte Boas zu Rut: Du hörst, meine Tochter, nicht wahr? Geh nicht auf ein anderes Feld, um Ähren zu lesen, und geh auch nicht weg von hier, sondern bleib bei meinen jungen Frauen und verhalte dich so: 9 Richte deine Augen auf das Feld, wo man schneidet, und gehe hinter den Frauen her. Habe ich nicht den Männern geboten, dich nicht anzutasten? Und wenn du Durst hast, geh zu den Krügen und trink von dem, was die Männer schöpfen. 10 Da fiel sie nieder auf ihr Angesicht, verneigte sich zur Erde und sagte zu ihm: Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mir deine Beachtung schenkst? Ich bin doch eine Fremde. 11 Daraufhin sagte Boas zu ihr: Es ist mir alles genau berichtet worden, was du nach dem Tod deines Mannes für deine Schwiegermutter getan hast. Du hast Vater und Mutter und dein Geburtsland verlassen und bist zu einem Volk gezogen, das du zuvor nicht kanntest. 12 Der HERR vergelte dir dein Tun, und voller Lohn soll dir zuteil werden vom HERRN, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um Zuflucht zu finden unter seinen Flügeln. 13 Und sie sagte: Ich finde Gnade in deinen Augen, mein Herr. Denn du hast mich getröstet und zum Herzen deiner Sklavin gesprochen. Ich aber bin nicht wie eine deiner Sklavinnen. 14 Und als es Zeit war zu essen, sagte Boas zu ihr: Komm her und iss von dem Brot und tunke deinen Bissen in den Essig. Und sie setzte sich neben die Schnitter, und er reichte ihr geröstetes Korn, und sie ass und wurde satt und behielt noch etwas übrig. 15 Dann erhob sie sich, um Ähren zu lesen, und Boas befahl seinen jungen Männern: Sie darf auch zwischen den Garben Ähren lesen, und ihr sollt ihr nicht nahe treten. 16 Und ihr sollt für sie sogar etwas aus den Ährenbündeln ziehen und es liegen lassen, damit sie es auflesen kann, und ihr sollt es ihr nicht verwehren. 17 So las sie bis zum Abend Ähren auf dem Feld, dann klopfte sie aus, was sie aufgelesen hatte, und es war ungefähr ein Efa Gerste. 18Und sie nahm es mit und kam in die Stadt, und ihre Schwiegermutter sah, was sie aufgelesen hatte. Und sie zog hervor, was sie vom Essen übrig behalten hatte, und gab es ihr. 19 Und ihre Schwiegermutter sagte zu ihr: Wo hast du heute Ähren gelesen, wo hast du das getan? Gesegnet sei, der dir seine Beachtung geschenkt hat. Und sie berichtete ihrer Schwiegermutter, was sie bei ihm getan hatte, und sagte: Der Name des Mannes, bei dem ich das heute getan habe, ist Boas. 20 Da sprach Noomi zu ihrer Schwiegertochter: Gesegnet sei er vom HERRN, der den Lebenden und den Toten seine Güte nicht versagt hat! Und Noomi sagte zu ihr: Der Mann ist mit uns verwandt, er ist einer unserer Löser. 21 Und Rut, die Moabiterin, sagte: Er hat zu mir auch gesagt: Bleib bei den jungen Männern, die zu mir gehören, bis sie mit der ganzen Ernte fertig sind, die mir gehört. 22 Und Noomi sagte zu Rut, ihrer Schwiegertochter: Es ist gut, meine Tochter, wenn du mit seinen jungen Frauen hinausgehst, so wird man dich nicht auf einem anderen Feld anrühren. 23 Und sie blieb beim Ährenlesen bei den jungen Frauen von Boas, bis die Gerstenernte und die Weizenernte zu Ende waren. Und sie wohnte bei ihrer Schwiegermutter.
Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gottesdienstgemeinde, liebe Freunde
Lange wurde das Ruth-Büchlein ja etwas stiefmütterlich behandelt. Es ist nicht besonders lang, es ist eine relativ kleine und übersichtliche Geschichte und ja, sie hat ein beträchtliches Happy-End, was sie für die ernste religiöse Literatur etwas verdächtig machte.
Dabei gibt es Besonderheiten, die uns heute gewiss aufmerken lassen müssten. Es ist das zweite Buch, das nach einer Frau benannt ist, und zwar schon im hebräischen Titel. Das andere wäre das Esther-Büchlein, das aber im Kanon und schon in der jüdischen Theologie immer etwas randständig war. Bei Ruth ist das anders.
Und es ist benannt – als einziges Buch in der Bibel – nach einer Ausländerin, einer Fremden. Gerade in der Bibel, die doch klassisch-jüdisch so sehr auf das Einhalten der Grenzen, der Volksgrenzen, der Gebietsgrenzen, auf die Zugehörigkeit zum Volk und auf die Unterscheidung von fremd und eigen achtet.
Gewiss es gibt Parallelen: Die Josefsgeschichten am Anfang der Bibel; das Jonabuch, die fast schon sarkastische Reflexion über Gott und die Welt und die Rolle des Propheten. Aber Ruth ist anders.
Man hat erwogen, ob es nicht tatsächlich von einer Frau geschrieben worden sei oder gar von mehreren Frauen. Zeitlich denken wir, es ist in frühnachexilischer Zeit entstanden, das meint: Ende des vierten Jahrhunderts vor Christus. Ruth ist also sicher 2‘300 Jahre alt. Für dieses Alter meine ich, hat die Geschichte eine bemerkenswerte Frische erhalten. Es lohnt sich darum, in ein paar Predigten darauf einzugehen.
Das zweite Kapitel bringt nun gegenüber dem ersten eine deutliche Beschleunigung. Das erste Kapitel umfasste einen längeren Zeitraum. Noomi und ihre Schwiegertöchter waren rund 10 Jahre in Moab. Nach dem Tod von Ehemann Elimäläch und der Söhne kehrt Noomi nach Israel heim. Der Hunger treibt sie, sie ist mittellos, ohne Versorgung, kann nicht mehr heiraten. Die Not treibt sie zurück. Ruth, die moabitische Schwiegertochter will mit ihr gehen. Orpa, die andere Schwiegertochter bleibt in Moab und sucht sich, so das Rollenmodell, dort einen neuen Ehemann als Versorger.
Die beiden Frauen suchen ihr Glück in Bethlehem.
Hier nun taucht Boas auf, ein entfernter Verwandter von Noomi. Er wird zwar nicht als sehr vermögend oder gar reich dargestellt, doch immerhin muss man schmunzelnd bemerken, scheint er ein attraktiver Mann gewesen zu sein, tüchtig und kraftvoll – das Gegenbild zu den schwächlichen Söhnen Noomis.
Überhaupt spielt die Geschichte geschickt mit durchaus sexuellen Anspielungen, mit der Attraktivität der Geschlechter, mit der Anziehung von Mann und Frau – aber auch mit den Schattenseiten etablierter Rollenmuster.
Ruth nun anerbietet sich als die jüngere, zur Erntezeit hinter den Schnittern her zu laufen und die übrig gebliebenen Ähren aufzulesen. Das gehörte im alten Israel zum Recht der Armen und Hungernden, dass hinter den offiziellen Reihen von Feldarbeitern die Armen die Reste auflesen durften.
Noch vor wenigen Jahren haben mir im Weinland ältere Bauern erzählt, wie in der Kriegszeit sie als Kinder mit der Mutter hinter der einfachen Erntemaschine über das Feld gegangen sind und regelmässig Kartoffeln, aber auch Rüben und Bohnen aufgelesen haben, wenn die Bauern über das Feld gegangen waren. Ja man oftmals sogar im voraus den ärmeren Bewohnern, Witwen und kinderreichen Familien mitgeteilt, dass man morgen dann dieses oder jenes Feld ernten werde, damit noch möglichst viel frisch und unverdorben aufgelesen werden konnte. Es ist nicht so lange her, dass wir auch in der Schweiz den Hunger kannten.
Hier nun ist ein Dokument zu sehen, dass als Geschichte Bezug nimmt auf das auch sonst im Alten Testament immer wieder erwähnte Recht, dass die Armen, Witwen und Waisen „lesen“ durften, also eben die übrig gebliebenen Feldfrüchte gratis mit nehmen.
Wir gehen davon aus, dass in Bethlehem eine Art Gemeinschaftsacker vor dem Dorf bestand. Dieser wurde von allen Bauern des Ortes gemeinsam bewirtschaftet, sicher aber gemeinsam geerntet. Frühe Formen von Kooperation waren die Regel. Geerntet wurde im Mai z.B. Gerste, später im Juni auch Weizen. Nicht selten je nach Frucht sogar zweimal im Jahr. Gerste wuchs im Alten Israel gut – ist aber, wir kennen es, schwierig zu verkochen. Mehr als Suppe oder Brei gibt es daraus nicht. Man kann es rösten, doch ist der Nährwert eher gering. Gerstenbrote sind brösmelig und hart – zuwenig Eiweiss und Kleber ist im Mehl. Nicht ohne Grund ist die bündner Gerstensuppe dick und angereichert mit Rahm, Fett und Fleisch.
Ruth nun macht sich aus der Not eine Tugend und geht aufs Feld. Gewiss steht im Hintergrund auch die Hoffnung, dass Ruth auf dem Feld jüngere Männer antreffen könnte, schliesslich ist sie auf der Suche nach einem Ehemann.
Und da kommt auch schon einer der Besitzer aus dem Dorf, der erwähtne Boas. Siehe da, die Männer diskutieren bereits, wer die unbekannte Frau ist, denn Ruth fällt auf. Eine Fremde, eine geheimnisvolle Schöne? Jedenfalls muss die Tatsache bereits die Runde gemacht haben. Ruth stellte sich den Schnittern offenbar selbst vor und appellierte auf das Recht, hintern den Schnittern die übrigen Ähren auflesen zu wollen. Das nun wird Boas mitgeteilt.
Dieser wendet sich nun direkt an Ruth. Er heisst sie, nur auf seinem Feld zu lesen, direkt hinter seinen angestellten Frauen herzugehen, denn offenbar versuchen die Bauern, selbst möglichst viel vom wichtigen Getreide einzusammeln. Boas macht also das gleiche, wie die Dorfemer Bauern vor 70 Jahren, die den ärmeren Bekannten mitteilten, wann und wo sie ernten würden, damit für diese mehr abfiel.
Gleichzeitig schärft Boas Ruth ein, sich in der Nähe seiner männlichen Angestellten und Knechte zu sein. Denn diese sind angehalten, sich nicht übergriffig zu verhalten. Denn machen wir uns nichts vor: Eine junge Frau aus Moab, die neu hier ist, weckt Begehrlichkeiten bei der männlichen Knechtschaft. Es geht schlicht und einfach darum, dass Boas Ruth vor sexuellen Übergriffen schützen will.
Und gleichzeitig realisiert er vermutlich, dass er als Verwandter von Noomi auch eine Art Fürsorgepflicht hat. Schliesslich ist auch Ruth entfernt mit ihm verwandt, anverwandt bestenfalls. Aber doch so, dass Boas sich um sie etwas kümmert – das verlangt der Common, der Anstand. Er zeigt es damit, indem er ihr Getränke während der schweren Feldarbeit anbieten. Denn in gebückter Haltung stundenlang Ähren zu lesen ist grausam ermüdend – genauso wie alle Feldarbeit in alter Zeit.
Und er zeigt sich gegenüber Ruth informiert. Er weiss um sie. Interessant aber: Ruth bedankt sich zwar überschwänglich für seine Fürsorge und Gunst, doch weist sie auch direkt und pointiert darauf hin, dass sie nicht wie eine seiner Mägde sei.
Man kann sich darüber erstaunt zeigen, man muss aber wissen, dass der Hinweis die Entsprechung zum Verbot der sexuellen Übergriffe durch die Knechte ist. Denn die Mägde hatten nicht selten auch in Israel ihrem Herrn sexuell zu Dienst zu sein, denn eine Magd war nicht gänzlich frei, es war ein Abhängigkeitsverhältnis und als Magd hatte man dem Hausherrn zu dienen. Ruth jedoch ist nicht Magd. Sie ist zwar noch jung und auf der Suche nach einem zweiten Ehemann, doch sie steht aller Dankbarkeit zum Trotz für Boas nicht zur Verfügung.
Er wiederum revanchiert sich und lädt Ruth zum Essen ein: Geröstete Körner, Sosse und Getränk. Und gibt den Schnittern den Hinweis, dass Ruth weiterhin auch mehr lesen darf, als bloss hinter den Mägden übrig bleibt.
So geht der erste Tag auf dem Felde zu Ende und Ruth erzählt ihrer Schwiegermutter davon. Und was noch wichtiger ist: Beide werden vom Gelesenen satt. Es ist nur eine kleine Bemerkung, aber es meint: Die Hungersituation ist vorüber. Noomi und Ruths Überleben ist gesichert. Satt ist umfassend gemeint: Es ist wieder gut. Nach langen Monaten der Unsicherheit, der Gefährdung und der Not sind die beiden wieder satt. Sie haben genug. Es ist gut.
Und Ruth erklärt ihr Vorhaben, dass sie am nächsten Tag wiederum lesen dürfe – bei den Schnittern des Boas. Noomi entgegnet darauf, dass sie bei den Frauen des Boas gewiss sicher lesen dürfe – und nicht auf einem andern Feld – doch Ruth will hinter den Schnittern hergehen.
Der Unterschied ist klein, aber beträchtlich: Noomi sorgt sich um Ruth und wohl auch um die Nahrung, die Ernte. Ruth hingegen sucht nicht nur Körner, sondern auch einen Mann. Die beiden Frauen haben nicht die gleichen Interessen und die Geschichte verschweigt das nicht.
Nun mag man die Geschichte bis dahin schön finden und sie entbehrt ja auch nicht der echten Schilderung der sozialen Wirklichkeit. Doch wo kommt darin Gott vor? Gewiss, im Gruss an Boas – aber sonst?
Darin ist die Geschichte sehr modern. Gott handelt nicht direkt wie in andern biblischen Erzählungen. Gott spricht nicht einmal wie in den Prophetenbüchern. Und es passieren auch keine Wunder und Mirakel.
Es ist eine einfache, so tragische wie liebenswürdige Geschichte von Menschen. Ein Bauer, zwei Witwen. Fast schon ein Schwank. Doch durchaus ernst.
Gott ist bestenfalls im Hintergrund auszumachen. Er handelt nicht einmal indirekt. Zwar kommt Jahwe immer wieder in Gruss- und Segensworten zur Sprache. Und Naomi wie Boas gelten als gottesfürchtig. Doch Religion ist mehr Haltung und moderner Glaube, als Erlebenswelt. Das macht die Geschichte für uns attraktiv.
Boas und Ruth sind nicht bessere Gläubige oder bessere Israeliten. Sie sind ganz normal. Sie agieren menschlich, handeln durchaus auch nach ihren Interessen und nach ihrem Herzen. Und doch achtet Boas Tradition wie Glaube, indem er die Anverwandtschaft Ruths achtet und ihr eine zuvorkommende Behandlung zukommen lässt.
Er macht das vielleicht tatsächlich völlig uneigennützig – vielleicht ist auch er bereits an Ruth interessiert – wir wissen es nicht. Es spielt hier auch noch keine Rolle.
Lediglich als ganz lose Klammer wird immer wieder erwähnt, dass Jahwe, Gott, weder Ruth und Naomi nicht fallen lässt. Fast mantraartig erwähnen das alle drei an verschiedenen Stellen. Diese Klammerbemerkung meint: Man kann das eigenen Leben, man kann sein eigenes Schicksal in der Hand Gottes liegend sehen. Der Mensch muss aber nicht. Der Moabiterin hätte man es nicht übel genommen, wenn sie ihren alten Glauben an die Götter Moabs wieder angenommen hätte. Dann wäre sie halt eine Fremde geblieben. Hat sie aber den Glauben angenommen, so gilt auch für die Fremde: Jahwe hält ihr Leben. Das bewahrt sie aber nicht vor Hunger, nicht vor dem Tod ihres ersten Ehemanns, nicht vor dem sozialen Abstieg als Fremde in Bethlehem.
Und doch: Es schwingt eben mehr mit, als bloss die lose Bekanntschaft zwischen Boas und Ruth, die lose Verwandtschaft. Es schwingt mit: Wir haben denselben Gott. Jahwe sorgt für dich wie für mich.
„Gesegnet sei Jahwe, der nicht verlassen hat seine Liebe zu den Lebenden und den Toten!“ – so lautet der Segensspruch Naomis für Ruth.
Das ist ein Statement: Jahwes, Gottes Hand fasst Lebende wie Tote zusammen und hält das irdische Leben fest, unsichtbar, aber doch wahrnehmbar für die, welche mitschwingen.
Amen.
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