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AutorenbildMichael Baumann

Karl Barth und die Spanische Grippe 1918 und von dort zu Müslüm

Aktualisiert: 10. Apr. 2020

1918 erlebte Karl Barth als Safenwiler Pfarrer die Grippe Pandemie. Die erste Welle erreichte Safenwil im Juli. Die Schulen wurden geschlossen und auch der kirchliche Unterricht fiel aus. Barth selbst war krank und schreibt am 23. Juli 1918 an seinen Freund Pfarrer Eduard Thurneysen:

"Am Sonntag war nun einmal einfach keine Predigt. Das Läuten wurde scheints sehr vermisst. Die Angst der Safenwiler, besonders der besseren, vor der Seuche ist sehr gross. Sie haben eiligst die Schule geschlossen, und auch die Unterweisung muss ich nun zu tun, was mir zwar augenblicklich ganz recht ist. In den Fabriken wird gegurgelt, was das Zeug hält. Niemand will sterben."

Barth schreibt dann weiter über sein erstes, grosses Buch, die Auslegung des Römerbriefs, das fast fertig ist. So schnell war der Wechsel zumindest im Brief an Thurneysen von Grippe-Angst zur intellektuellen Arbeit - vielleicht für Barth nicht die schlechteste Form der Bewältigung.

Die zweite Grippe-Welle erreichte Safenwil dann im Herbst. Zuerst mussten sie ihre Ferien abbrechen und nach Hause zurück kehren. Wiederum an Eduard Thurneysen schreibt Barth am 11. Oktober 1918: "Unsere Ferien mussten wir abbrechen der Grippe wegen. Unsere Gemeinde liegt im Schatten von Krankheit und Tod. Ich gehe von Haus zu Haus und sage mein Sprüchlein, so gut ich kann. Am Sonntag Abend halte ich eine schlichte Bibelstunde für einen kleinen Kreis, da die Morgenpredigt für die ganze Gemeinde der Ansteckungsgefahr wegen eingestellt ist."

Und auch der Ärger über die Kirchenleitung war damals nicht weit weg. Barth notiert zum Schluss: "Kirchenrat Pfarrer W. in Menziken hat einen Rundbrief an die Gemeinden erlassen, gegen den ich seiner Oberflächlichkeit wegen einen polemischen Brief geschrieben habe."

Anschliessend werden auch Barth und seine Frau Nelly krank. Thurneysen schreibt ihm am 30. Oktober: "Also seid ihr beide noch tief unter der Deckbett und in Kissen, aber doch seht ihr auf der äusseren Seite wieder aus dem Tunnel heraus. Wie froh sind wir, das zu wissen. Ich darf wieder lesen und schreiben. Aber nun ist seit gestern abend Marguerite auch in einen kleineren Grippetunnel eingefahren, glücklicherweise nur leicht, aber immerhin! Was sind das für unerfreuliche Geduldsproben!"

Interessant ist, dass vor hundert Jahren schon im Zusammenhang mit der Grippe-Pandemie von der Erfahrung des Tunnels gesprochen und geschrieben wurde. Nicht anders haben es die heute führenden Ärzte und Fachleute beschrieben. Das Leben scheint still zu stehen, ganze Nationen fahren in die Dunkelheit. Andererseits wechselt das Thema in den Briefen Barts schlagartig. 1918 stehen noch ganz andere Proben bereit. Die Angst vor dem Bolschewismus, der sozialistischen Revolution, folgt beinahe in jedem Brief. Und die Arbeit der Kirche, der Verkündigung ruft. So kann Barth kurz darauf, am 11. November an Thurneysen schreiben: "Von der Grippe aufgestanden, müssen wir nun doch in diesen ausserordentlichen Zeiten rasch wieder Fühlung gewinnen. Aber um was zu sagen?"

Es geht Barth um die Verkündigung von Gottes Zuständigkeit und Wirken in der Welt. Was hat Gott mit der Welt und uns vor? Barth ringt um Klarheit und darum, was die Bibel ihm und uns in diese Welt und Wirklichkeit hinein sagen will. "Hätten wir uns doch früher zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füssen hätten! Nun brütet man abwechselnd über der Zeitung und dem Neuen Testament und sieht eigentlich furchtbar wenig von dem organischen Zusammenhang beider Welten, von dem man jetzt deutlich und kräftig sollte Zeugnis geben können."

Besser scheint mir, könnte man nicht formulieren, worum es auch heute uns Christen zu tun ist. Angst und Panik lähmt die einen, stoische bis dümmliche Gelassenheit tragen die andern zur Schau. Nicht ohne Grund predigte Barth im Oktober 1918 über die Stillung des Seesturms (Mt 8,23ff.). So notiert er dort in seinen Predigtnotizen am Anfang: "Das haben die Jünger Jesu im Schifflein erfahren müssen. Sie haben sicher zuvor gewusst, dass Gott der Herr der Natur ist und dass wir auf Gott vertrauen müssen in aller Not, aber was half ihnen das, als nun das grosse Ungestüm sich erhob und das Schifflein mit Wellen bedeckt war. Da war es eben vorbei mit Gott und sie hatten einfach Angst, gerade wie wir auch vor der Grippe, vor Hungersnot, vor den sozialen Umwälzungen, die kommen."

Barth bleibt aber in seiner Predigt nicht dabei stehen und behilft sich auch nicht mit einem einfachen und raschen Trost, der biblisch auf das Wunder Jesu - der Stillung eben des Sturmes - verweist. Ihn interessiert die Reaktion der Jünger: "Sie mussten sehen und staunen."

Das meint: Gott kann auch ganz anders. Wer Gott in der Welt wahrnehmen will, muss lernen sich zu wundern. "Wer sich verwundern will, wird herrschen" - ruft Barth mit einem sehr gelehrten Zitat aus Platon seiner Landgemeinde zu. Und doch hat er natürlich recht: Wundern meint, die Augen auf etws ganz anderes zu lenken. Sich wundern darf man über jede noch so kleine Freude und Geste auch im bedrängten und angstvollen Alltag. Wundern soll man sich über die helfenden Hände und Gottes realen Zuspruch jeden Tag. Das Wundern ist der Zustand der Weisen. Die Weisen sind die Alten, um die wir uns jetzt sorgen und bemühen - gerade wie es der Künstler, Musiker und Komiker Müslüm für das Rote Kreuz befohlen hat. Ob Müslüm auch Platon studiert hat, wie Barth? Man sollte ihn nicht unterschätzen.

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