Zusammenfassung 1: Jesus – eine Weltgeschichte; Markus Spieker
Kapitel 1-2: Erster Teil – Schöpfer
Vorbemerkung:
„Gott schickt den angekündigten Retter“ (S. 149) mit dem Fazit schließen die ersten beiden Kapitel der Vorgeschichte, die Vf. seiner Jesus-Biografie voran stellt. Er leistet einen wahren Parforce-Ritt durch das ganze Alte Testament und die jüdisch-hellenistische Geschichte. Vf. schreibt dabei erklärtermaßen als theologischer Laie, aber mit einer dezidierten Mission: Es geht ihm darum, aus gläubiger Perspektive sowohl die Jesus-Geschichte wie auch den jüdisch-christlichen Glaubensschatz zusammen zu fassen und einen Zugang zu gewinnen. Das ist natürlich legitim und bietet viel Reizvolles. Manchmal scheint es aber auch, dass Themen und Abschnitte gar rasch abgehandelt werden oder wie z.B. der grosse Prophet Ezechiel werden rigoros umgruppiert. Hier wäre der Einstieg vielen Lesern einfacher zu machen gewesen, wenn es auch historisch und theologisch völlig nachvollziehbar ist.
Als Historiker hat er zudem einen eher inklusiven Zugriff auf die Bibel, v.a. was die sog. alttestamentlichen Apokryphen, also die Schriften, die nicht in allen Bibelausgaben vorhanden sind, anbetrifft. Das ist selbstverständlich richtig und klug, nur für die Leser vermutlich etwas verwirrend, denn wo sich dann welche Schriften finden und wie der Unterschied zwischen Apokryphen des AT, des NT, den deuterokanonischen Schriften und den frühchristlichen und frühjüdischen zu machen ist, das ist vermutlich nicht ganz jedermanns Sache.
Zwischendurch verfällt Vf. nicht selten in eine Art „Staccato-Stil“, wo es nicht einmal mehr für ganze Sätze reicht, sondern wie als Gedankenstützen einzelne Worte aufgelistet werden (so auf S. 75, 85, 100, 109, 120). Man weiss da nicht recht, ob das dem Memorieren des Lesers dienen soll oder ob Vf. schlicht und einfach die Zeit fehlte, diese Absätze noch auszuformulieren. Das ist etwas schade, denn dem zweifellos vorhandenen Wissen und der Formulierungsfähigkeit des Vf. wird das nicht gerecht. Immerhin will er ja ein Buch schreiben und keine Whatsapp-Folgen. Ein gute Lektorat hätte da viel an Lesefreundlichkeit heraus holen können. Man muss sich m.E. entscheiden: Will ich ein Buch als Kursunterlagen verstanden wissen oder soll es eine Lektüre im Fluss ermöglichen. Zweck und Stil sollen sich ergänzen, essayistisch formuliert ist nicht schlecht, aber fehlende Sätze, kruder Stil und abbrechende Wortreihen sind vermutlich für das Verständnis auch nicht so sehr hilfreich, wenn man den Hintergrund nicht kennt.
Ein letzter und etwas beckmesserischer Punkt: Der Einband und der Druck ist missraten. Gewiss, die Dornen-Königskronen-Symbolik ist in Kreisen expliziter Christen bekannt. Aber man kann es auch übertreiben und viele Christen stört bei einem doch eher ausgewogenen Buch dies aufdringliche Äussere kombiniert mit einem goldenen Vorsatzblatt. Wäre dann der Druck entsprechend, könnte ich das noch verstehen. Aber Fontis – ehemals Brunnen Vlg. – druckt auf eine Art Altpapier, wohl um den Preis niedrig zu halte, das an Toilettenrollen erinnert. Aber das ist einfach schade und rein handwerklich kommt halt kein schönes Buch heraus, wenn man den Preis druckt, das Buch in Tschechien druckt und es nichts kosten darf. Warum Vf. dem zugstimmt hat, bleibt rätselhaft.
Inhaltliches:
1. Kapitel: Auf der Suche nach dem verborgenen Gott
Vf. beginnt im Unterschied zu anderen Jesus-Büchern weit voraus. Schöpfungstheologisch originell meistert Vf. die Untiefen der Diskussion um Intelligent Design und verbindet assoziativ die Unendlichkeiten des Alls mit dem Stern von Bethlehem. Von dort geht er zurück zu einer philosophiegeschichtlichen Beschreibung der zentralen Fragen des Mensch-Seins unter dem gewiss legitimen Fragekomplex aller seriösen Religion: Was ist nach dem Tod? Und was ist mit den Göttern?
Dass er hier das Konzept der Achsenzeit (Jaspers & moderner Assmann) referiert, aber es doch nicht dabei sein lässt, spricht für seinen doch theologischen Ansatz. Vielleicht ist es für Neuleser etwas gar viel „Stoff“, aber er hat ein Ziel: Anhand der später erzählten theologischen Geschichte des Alten Testaments (das meint: Israels) fehlt eben in der Geistes-, Philosophie- und Religionsgeschichte der alten Griechen und Römer, der Ägypter und im vorderen (Gilgamesch) wie mittleren Orient (Zarathustra) das entscheidende Element des sich persönlich um ein Volk und den Menschen kümmernden Gottes.
Man kann gewiss Vf. vorwerfen, es sei zu kurz und zu pointiert formuliert, aber es ist eine veritable These, die er z.B. (S. 63) bilanziert: „Kein Gott interveniert. Der Himmel schweigt.“ Das ist, cum grano salis, eigentlich das antike Gottesverständnis.
2. Kapitel: Der Meisterplan
Originellerweise beginnt Vf. das nächste Kapitel mit einer ersten Zusammenfassung. Er versteht Ez beinahe als eine „hermeneutische Kategorie“. Ez ist die „Brille“, durch die Vf. das AT liest. Das ist keineswegs banal, sondern hoch spannend. Denn in der Theologiegeschichte galt lange Jesaja als der „5. Evangelist“, weil er natürlich mit seinen Friedensprophezeiungen, mit dem Wort von der Geburt der Jungfrau und mit dem 12. Gottesknechtslied von den frühen Christen mit Recht auf Jesus hin gelesen wurde.
Wenn Vf. hier am Anfang nun aber Ez als Interpretationsschema stellt, so bietet er eben einen sog. „heilsgeschichtlichen Ansatz“: Trotz allem Bösen und Schlimmen, das in der Welt und dem Volk Israel geschieht, wird sich Gott als der Herr der Welt zeigen und die Seinen retten.
„So wie Thales, Buddha und Konfuzius Wendepunkte im menschlichen Denken bringen, so stehen Hesekiel und die andern Protagonisten der Prophetenbücher für Wendepunkte in der göttlichen Offenbarung. Gottes Werk ist mit der Schöpfung nicht zu Ende, auch nicht mit der Berufung des Volkes Israels und mit der Verkündigung der Zehn Gebote.“ (S. 72)
Das ist ein starker Interpretationsansatz. Er bietet Vf. die Möglichkeit, das AT als Beispiel einer Selbstexplikation Gottes zu verstehen: Das Volk Israel, seine Rettung aus Ägypten, seine Landnahme und sein Wachsen, sein Königtum und seine vielfältigen Bedrohungen sind Zeichen, dass Gott sich selbst diesem Volk und damit Menschen gegenüber verbindet, die selbst an und für sich überhaupt nicht das Anrecht besäßen, Gott für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. „Es sind Zeichen Gottes an die Welt.“ (S. 79).
Natürlich, für einen „religiös unmusikalischen Historiker“ wären es schlicht und ergreifend Zufälle. Für Vf. hingegen – der nach dem Aufriss des AT, also der hebräischen Bibel die Geschichte versteht – ist es nicht nur ein religionshistorisches Zeugnis, sondern eben analog der Schöpfung oder des Urknalls selbst, eine „Mission impossible.“ (S. 81) Anders formuliert: Sieht man einmal von der kontigenten Möglichkeit ab, dass gerade das völlig unerhebliche Kleinvolk Israel kultur- und geschichtsbildend hätte werden können, spricht eigentlich alles dafür, dass diese kleine Schar in der Geschichte untergegangen und vergessen worden wäre. Es ist also ein geschichtsphilosophisches Argument, das Vf. hier bringt. Logisch formuliert: er wendet die schwache gegenüber einer starken Argumentation an.
Vieles spräche dafür, dass Israel vergessen gegangen wäre. Dass es das nicht ist, ist bemerkenswert, ein Wunder, Zufall oder aber eben Gottes Wille. Dass Gott sich hier in der Geschichte zeigt ist für Vf. nicht einfach eine fromme Ansicht oder ein Wunsch, sondern durchwegs logisch vernünftig, eben eine sog. „schwache“, damit eben folgerichtige Erklärung gegenüber einer „starken“, also sehr hypothetischen.
Vf. argumentiert, ohne dass er das breit kommentiert, also mit ziemlicher Fallhöhe, was für ihn spricht. „Ich bin der, der ich bin.“ (S. 85) zitiert er Ex 3 (verschiedene Übersetzungen möglich) und zeigt damit eben, dass er Gottes Offenbarung an Mose nicht als frommes Märchen, sondern jenseits jeglicher Diskussion um die historische Möglichkeit als wahres Konzept versteht: Gott zeigt sich dem wirklichen, versklavten Volk und vermag es in der Geschichte zu retten.
Auch bezüglich der wunderhaften Rettungsgeschichten versteht es Vf., nicht einem plumpen „Anti-Physikalismus“ das Wort zu reden, sondern die Spannweite möglicher Erfahrungen eben offen zu halten und gleichzeitig (S. 86) die Zeit bis zu Jesus von Nazareth offen zu halten: Die Bibel spricht von verschiedenen Rettunsmissionen.
Als Rettung versteht er auch die Geschichte der Zehn Gebote, die Vf. als „Worte“ (nicht als Gebot, Weisung, Gesetz verstanden wissen will), was ihm mehr Deutungsraum ermöglicht. Man kann das tun, muss es aber nicht, wer die Wirkungsgeschichte betrachtet.
Auf den folgenden Seiten diskutiert Vf. dann die Offenbarung Gottes im Wirken an Mose und dem Volk Israel auf dem Exodus.
Nach der Offenbarung der 10-Worte als Lebens-Regeln für das Volk erscheint das Wort der „Treue“ Gottes gegenüber seinem Volk Israel. „Chesed“ versteht Vf. umfassend, nicht nur von Gott zu Israel, sondern reziprok gegenüber Gott und den Mitmenschen.
Monotheismus ist Treue – und es ist bezeichnenderweise nicht nur eine Art „one-way-Verständnis“, sondern eben wechselseitig. Hilfsmittel dazu ist die Tora, also die fünf Bücher Mose. Sie gelten als Sammlung aller Weisungs-Worte, die diese Treue zu beschreiben suchen und dem Menschen auf seinem Lebens- und Glaubensweg helfen.
Etwas eigenartig wirkt der Hinweis (S. 89f.) auf eine Publikation aus den USA, die Vokabel „Qadosch“ / „Qadoschim“ (קָד֔וֹשׁ) für „heilig“ lediglich als „getrennt“, „abgesondert“ zu verstehen und damit einem vermeintlichen „Missverständnis“ zu begegnen. Die Wurzel *qdsch bezeichnet immer schon beides: „abgesondert“ und „heilig“ und unterstreicht eigentlich Gottes Auswahl für sein Volk dementsprechend. Vermutlich will Vf. ein biblizistisches Verständnis der Tora ausschliessen, was aber nicht klar wird.
Über Josua, den Nachfolger Moses und eigentlichen Erbe zieht Vf. die Linie weiter zu David. S. 90 erscheint ziemlich abrupt auch Melchisedek, der geheimnisvolle König aus Gen 14 sowie eine Interpretation von Jakobs Kampf am Jabok. Hier macht es Spieker dem Leser nicht eben einfach, den Überblick zu behalten. So lässt er S. 92 eine tabellarische Übersicht folgen, wie er sich das vorstellt. Es sind verschiedene Bünde zwischen Gott und Mensch zu unterscheiden, welche er mit der klassischen Weltreichtheorie verbindet. Ganz schlüssig als System scheint mir das aber nicht.
Klarer wird die Zusammenstellung mit David. Er gilt Vf. eben nicht nur als typischer Held, sondern als tragische Figur. Hier unterscheidet sich Vf. deutlich von einfacheren Interpretationen, in denen David häufig eindimensionaler beschrieben wird. David als König in seiner widersprüchlichen Art kontrastiert dann mit den Propheten, die „Sprachrohr Gottes“ sind (ab S. 99) und das Gegenstück zur Herrschaftsideologie des Königshauses.
Natürlich wird Vf. dem vielschichtigen Phänomen der Prophetie nicht gerecht, aber sein Ziel ist klar: Gott lässt sein Volk nicht fallen und sucht beständig den Zugang zu ihm, auch wenn sich dieses wiederholt störrisch zeigt.
Missgriffig scheint mir die Bezeichnung „erste Shoah“ (S. 105) für die wiederholte Eroberung Israels, die Zerstörung des Grossreiches, den Untergang des Nordreiches 722 v.Chr. durch die Assyrer und letztlich dann das 597 v.Chr. beginnende babylonische Exil nach der Eroberung Jerusalems unter den Neubabyloniern. Auch wenn vermutlich Vf. auch hier den Charakter der „Bewahrung“ des Gottesvolkes unterstreichen will, weckt die Begrifflichkeit falsche Assoziationen und wird auch der jüdischen Interpretation nicht gerecht. Das Exil ist gerade im Unterschied zum Exodus aus Ägypten in der jüdischen Interpretation selbst verschuldet und wurde auch so in den Prophetenschriften interpretiert.
Mit Beginn des apokalyptischen Schrifttums (v.a. Daniel) und der Zeit der Makkabäer scheint sich Vf. aber wohler zu fühlen. Es gelingt ihm m.E. ganz gut, die Zeit der Wiedererstarkung Israels unter den Hasmonäern zu schildern, auch die wiederholt sich zeigende Korruption und Grossmachtallüren der Herrscherfamilien. Für die Leser vermutlich schwierig ist sein doch häufiges Hin- und Herschwenken zwischen klassisch biblischen und apokrypher, letztlich sogar ausserbiblischer Literatur (in der frühjüdischen Zeit des 2. und 1. Jhdts. v.Chr. mit Philo v. Alexandria).
Eindrücklich ab S. 113 erfolgt die Schilderung der verschiedenen Gruppierungen im Frühjudentum (Essener, Pharisäer, Sadduzäer, Zeloten inkl. Sikarier). Hier ist Vf. in seinem historischen Element und zeigt die unterschiedlichen Motivationen der verschiedenen sozialen, religiösen und politischen Gruppierungen. Das ist wichtig, um die Evangelien und Jesu Worte verstehen zu können. Auch die Relevanz der späten Bücher Jona und Rut für die Evangelien (und Esther für das Judentum) werden klar, wohingegen Hiob und Sprüche / Hohes Lied etwas kurz abgehandelt scheinen. Hier hätte er viel mehr Platz auch der christlichen Rezeptionsgeschichte einräumen müssen – oder es halt weglassen.
Auch die Kurzreferenz der späten Propheten unter dem Titel „Melchisedek 2.0 und Superman“ wirkt platt. Ob das mit der deutsch-jüdischen Wurzel von Superhelden und Nietzsche so einfach ist? Bei Daniel wäre auch zu sagen, dass der Prophet ganz deutlich und auf hohem Niveau die traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen des Volkes Israel verarbeitet und so Muster zur Bewältigung von Geschichte und Gegenwart bietet. Das scheint mir vergessen zu werden.
Über den römischen Historiker Tacitus und den „kleinen“ Propheten Habakuk gelangt Vf. dann bis vor die Zeit der Geburt Jesu. Seine Klammer der quasi angekündigten Offenbarung macht dies schlüssig. Eine kleine Quintessenz aber verschenkt Vf. am Schluss: Das Sprichwort, „erzähl doch keinen Habakuk“ („das ist doch alles Habakuk“) spielt gerade darauf an, dass man der Heilsprophetie nicht glauben wollte und schon gar nicht seiner Kritik… auch 600 Jahre später eben nicht.
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